Die Tücken der Kunstbrut

Damit aus einem befruchteten Ei ein Küken schlüpft, müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehört insbesondere der richtige Umgang mit dem Ei. Denn was früher Aufgabe der Glucke war, übernehmen heute meist Mensch und Maschine.
Hier kommt eine Legende.
Autor: Fabian Schenkel

Ein leises Piepsen ist zu hören. Beim Öffnen des Brutapparates wird es immer lauter, schriller. Kleine gelbe und braune Wollknäuel melden sich zwischen aufgebrochenen Eierschalen lautstark zu Wort. Versuchen sich hektisch im hinteren Teil der Schublade zu verstecken oder suchen die Nähe ihrer Geschwister. Einige sind bereits trocken und flauschig. Andere noch feucht und unsicher auf den Beinen, denn sie haben es erst vor kurzer Zeit geschafft, sich aus der Eierschale zu befreien. Seit der Befruchtung vor 21 Tagen beziehungsweise seit dem Beginn des Brütens – was nicht unweigerlich auch der Zeitpunkt sein muss, an dem die Henne das Ei gelegt hat – ist viel passiert. Und längst nicht aus jedem befruchteten Ei schlüpft einmal ein süsser kleiner Federball. Die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit während der Bebrütungszeit sind die beiden entscheidenden Faktoren für einen erfolgreichen Schlupf des Kükens. Die meisten Küken allerdings werden heutzutage nicht mehr von der Glucke ausgebrütet, sondern schlüpfen in einem Brutkasten, bei der sogenannten Kunstbrut. Was die Glucke instinktiv richtig macht, muss bei der Kunstbrut möglichst identisch nachgeahmt werden. Die Temperatur beim Bebrüten ist extrem wichtig. Nach dem Experten Carl Heinrich Engelmann, zu Lebzeiten unter anderem Abteilungsleiter am Institut für landwirtschaftliches Versuchs- und Untersuchungswesen in Rostock (D), reagieren die Embryonen je nach Alter unterschiedlich auf tiefe Temperaturen, abhängig vom Wachstumsstadium, in dem sie sich gerade befinden.

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Das Ei braucht mehr als Körperwärme So zeigen seine Untersuchungen, dass Küken, die am ersten Bebrütungstag drei Stunden lang einer Temperatur von null Grad ausgesetzt waren, mehrheitlich normal schlüpften, sofern die Abkühlung langsam erfolgte, sprich: die Temperatur stetig verringert wurde, bis sie nach drei Stunden null Grad erreichte. Im Gegensatz dazu wurde die Temperatur bei einer zweiten Versuchsgruppe innerhalb der ersten Stunde auf null Grad reduziert, was zu keinem erfolgreichen Schlupfergebnis führte. Aus Eiern, die am ersten Bebrütungstag langsam auf null Grad heruntergekühlt wurden, schlüpften 96 Prozent der Küken. Erfolgte der Kälteschock am zwölften Bebrütungstag, schlüpften noch 50 Prozent der Küken. Ab dem 14. Bebrütungstag überlebte keines der Embryonen mehr. Somit zeigt sich, dass der Keim in den ersten Lebenstagen noch anpassungsfähig ist, während er gegen Ende der Brutzeit immer weniger Temperaturschwankungen trotzen kann. Als Idealtemperatur gelten beim Brüten 37,8 Grad. Doch dieser Angabe sollte nicht einfach blind gefolgt werden. Denn das Wichtigste ist, die Anleitung des Brutapparates genau zu lesen und ihn gemäss dieser in Betrieb zu nehmen. Denn je nachdem, wo das Thermometer angebracht ist und um was für eine Art von Brutapparat es sich handelt, muss die Temperatur etwas höher oder tiefer eingestellt werden. Ebenso wichtig wie die Temperatur beim Brüten ist die Luftfeuchtigkeit. Ist sie zu tief, verdunstet die Flüssigkeit im Ei schnell. Dadurch dehnt sich die Luftblase aus und das Küken hat weder Platz noch genügend Flüssigkeit zur Verfügung. Ist sie jedoch zu hoch, kann die Luftblase, die dem Küken als Luft. Die Tücken der Kunstbrut Vorrat zum Atmen dient, zu klein werden. Im besten Fall sollte die Luftfeuchtigkeit in den ersten 18 Tagen bei 53 Prozent liegen. In den letzten rund drei Tagen bis zum Schlupf sollte man die Luftfeuchtigkeit auf 70 bis 75 Prozent erhöhen, damit die Eihäute genügend elastisch bleiben, um dem Küken einen optimalen Schlupf zu gewährleisten.

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Die schützende Hülle Die Eierschale übernimmt dieselbe Schutzfunktion, die beim Menschen der Mutterleib übernimmt. Einzig die Wärme muss von aussen zugeführt werden. Entweder von der Glucke selbst oder vom Brutapparat, in den das Ei gelegt wurde. Die Embryonalhülle, die sogenannte Chorioallantoismembran, übernimmt die Versorgungs- und Atmungsfunktion, also die Rolle der Plazenta. Damit diese Membran ihre Arbeit erledigen kann, braucht es ein sauberes Ei mit perfektem Schalenaufbau. Das heisst, der Schale sollten keine Schmutzpartikel anhaften, die die Poren verstopfen können.


«Die Bruteier kommen für 21 Tage bei 37.8 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von 53% in den Brutkasten bis die flauschigen Küken schlüpfen.»


Und sie sollte rund 10 000 Poren aufweisen, über die der Gasaustausch reguliert wird. Wie der deutsche Experte Michael von Lüttwitz in seinem Fachbericht «Die Poren im Hühnerei» schreibt, nimmt ein Küken Embryo in einem etwa 60-grämmigen Ei während der Brutzeit rund sechs Liter Sauerstoff auf und gibt viereinhalb Liter Kohlendioxid ab. Zusätzlich kommt es zu einer Abgabe von ungefähr elf Litern Wasserdampf. Anders ausgedrückt: Pro Sekunde und Pore strömen 20 Billionen Sauerstoffmoleküle ins Ei, während 14 Billionen Kohlendioxid- und zwölf Billionen Wassermoleküle das Ei verlassen. In der Natur bewegt die Henne ihre Eier beim Brüten, also wenn sie darauf sitzt, regelmässig. Dieser Vorgang sollte im Brutapparat nachgeahmt werden. Alle Bruteier müssen regelmässig gewendet werden, damit die Embryonen respektive später die Küken nicht an der Schale festkleben. Dies könnte nämlich zum Absterben der Embryonen führen oder zumindest zu einer starken Deformierung noch während der Entwicklung im Ei, wie im Fachbuch «Brutfibel» von M. Dieckmann nachzulesen ist. Das Wenden sorgt auch für eine bessere Ernährung der Embryonen. Zudem wird im Ei Innern ein Wärmeausgleich geschaffen. Wie das Wenden vonstatten geht, ist unterschiedlich. Bei einem älteren Brutapparat muss dies noch von Hand gemacht werden. Neuere Modelle sind meist mit einer mechanischen Wendevorrichtung ausgestattet. Das Wenden ist vom 1. bis zum 18. Tag nötig. Für die letzten drei Tage der Brut wird der Wendevorgang ausgeschaltet. Denn während dem Schlupf sollten die Küken keiner Bewegung mehr ausgesetzt werden. Ausbrechen mit dem Eizahn Ist das Küken mehr oder weniger fertig entwickelt, steigt sein Bedarf an Sauerstoff. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem es die Membrane zur Luftkammer im Ei durchbricht. Womit die aktive Lungenatmung einsetzt. Aber auch der Sauerstoff in der Luftkammer ist begrenzt, er reicht für rund sechs Stunden. Danach muss das Küken eine neue Lösung finden. Dies tut es, indem es mit dem Eizahn, einer verhornten Erhebung auf dem Schnabel, die Eierschale aufritzt. Ausgelöst wird diese Aktion durch den Anstieg der Kohlendioxidmenge, was die «Schlupfmuskulatur» anregt. Zwischen dem Anpicken des Eies und dem Schlupf vergehen zwischen sechs und vierundzwanzig Stunden. Je länger das Küken benötigt, um sich aus dem Ei zu kämpfen, desto grösser ist die Gefahr, dass die Eihaut eintrocknet, was den Schlupf verhindern kann oder zumindest erschwert.

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